Wie finde ich die zu mir passende Gewohnheit?

Die regelmäßige Leser*in dieses Blogs wird schon gemerkt haben, dass ich ein großer Freund von Gewohnheiten bin. Zum einen entlasten sie uns von der Aufgabe, die Bewältigung regelmäßiger und langfristiger Aufgaben mit immer neuer Selbstdiszplin vorantreiben zu müssen (Automatisierung statt Selbstdiszplin). Zum anderen stärken sie die Konzentration auf die Ausführung einer Tätigkeit statt auf deren Erledigung, was wiederum mehr Zufriedenheit während der Aufgabebearbeitung ermöglicht (Prozessorientierung statt Ergebnisorientierung). Hat man dies einmal verstanden, dann ist der nächste Schritt, sich zu überlegen, welche neue Gewohnheit man denn nun in sein Leben integrieren möchte. Aber Vorsicht! Bei dieser Auswahl einer neuen Gewohnheit gibt es einen Fallstrick, der die ganze Gewohnheitseinführung, auch wenn sie mit noch so vielen Unterstützungstricks geplant wurde, zu Fall bringen kann.

Sehen wir uns mal das folgende Beispiel an: Angenommen, ich fühle mich körperlich nicht fit. Und möchte darum Sport treiben. Die Läufer, die ich morgens jeden Tag auf dem Weg zur Arbeit sehe, imponieren mir. Ich denke mir: Wenn ich auch so diszpliniert jeden Morgen vor der Arbeit Laufen gehen würde, dann wäre ich in Nullkommanichts ein Topsportler. Und zur Unterstützung, ich möchte es ja gleich richtig angehen, mache ich noch funktionales Krafttraining. Ist ja auch wichtig, um Fehlbelastungen zu vermeiden. Als nächstes gehe ich in ein Sportgeschäft und kaufe mir neue Laufschuhe. Und weil ich schon mal da bin, auch gleich einen Satz schicke neue Laufklamotten. Ich bin motiviert, das Ziel vom Traumkörper zieht mich an, ich stelle mir den Wecker extra früher und gehe tatsächlich Laufen. Bis dahin scheint alles ganz wunderbar. Warum bloß denke ich mir nach einer Woche morgens im Bett, wenn der Wecker klingelt: „Heute gehe ich mal nicht Laufen, war ja schon die letzten Tage.“ Und am darauffolgenden Tag auch. Am übernächsten Tag kann ich nicht, da habe ich morgens einen Termin. Dann ist die Woche ja eh schon vorbei… Und das war’s. Laufkarriere wieder beendet. Was ist hier passiert? Warum bin ich an meiner neuen Gewohnheit nicht dran geblieben?

Das Hauptproblem ist hier vermutlich (neben einer fehlenden Planung zusätzlicher Unterstützung für die neue Gewohnheit, wie du sie hier lernen kannst) die Auswahl der neuen Gewohnheit selbst. Das Problem hier ist, dass ich die neue Gewohnheit vom Ziel her denkend ausgewählt habe. Ich habe mir überlegt, wo ich hin möchte („Traumkörper“) und eine Gewohnheit ausgewählt, die mich möglichst schnell da hin bringen soll. Damit geht einher, dass ich mich vom Image der Sportart habe blenden lassen. Das Bild von mir selbst, das ich mir ausgemalt hatte, hat mir gefallen. Mein zukünftiges Selbst, das jeden Tag Laufen geht, hat mir gefallen. Mir gefiel die Idee, diese Gewohnheit in meinem Leben zu haben. Was in all diesen Überlegungen gar nicht vorkommt, ist die folgende Frage: Macht mir Laufen eigentlich Spaß?

Und genau darum war die neue Gewohnheit Laufen im obigen Beispiel zum Scheitern verurteilt. Während des Laufens habe ich vielleicht gar keine Glücksmomente, sondern denke mir nur: „Wann ist das hier endlich vorbei?“. Das Ziel Traumkörper ist sehr weit entfernt (je nach Ausgangszustand vielleicht Jahre), das kann mich nur schwer über eine so lange Zeit hinweg motivieren. Darum ist so viel wichtiger, dass die Ausführung der Tätigkeit selbst mir schon Zufriedenheit verschafft. Tätigkeiten, während derer ich Spaß habe, oder die mich direkt danach mit einem angenehmen Körpergefühl zurücklassen, die werde ich freiwillig öfter ausführen. Da werde ich mit jeder Ausführung mehr und mehr Lust bekommen. Daraus wird dann eine Gewohnheit werden. Aber Tätigkeiten, die mich unbefriedigt zurücklassen, werde ich am Anfang, wenn das motivierende Fernziel noch alles überstrahlt, einige Male ausführen. Aber wenn dann die Niederungen des Alltags einkehren und die anfängliche Begeisterung verblasst, dann wird sich die Unlust durchsetzen, die ich während dieser Tätigkeit empfinde. Und ich werde mit dieser Aktivität aufhören, bevor sie jemals zu einer Gewohnheit werden konnte. Heißt das jetzt, die Person im Beispiel oben muss für immer unsportlich bleiben? Nein. Sie muss sich nur auf die Suche machen, welche Form der körperlichen Bewegung ihr wirklich Freude bereitet. Vielleicht Tischtennis? Frisbee? Rollschuhfahren? Baumstammweitwurf?

Manch eine*r denkt sich jetzt vielleicht: „Wie unpraktisch! Ich will aber Gewohnheiten etablieren können, wie ich will! Ich will mich nicht dadurch beschränken lassen, dass ich darauf achten muss, wie zufriedenstellend die Gewohnheit ist! Ich will die effizientesten Gewohnheiten haben, um meine Ziele möglichst schnell zu erreichen!“ So jemand bedauert nun, dass die eigene Psyche, die auf Zufriedenheit aus ist, ihr/ihm da einen Strich durch die Rechnung macht. Meine Antwort darauf ist: Sei froh! Diese Eigenschaft deiner Psyche bewahrt dich vor der Sklaverei. Wie das? Das hat mehrere Gründe. Die meisten Menschen sind erstaunlich schlecht darin, vorhersagen zu können, was ihnen wie gut tun wird. Sie malen sich aus, dass es ganz toll wäre, ein bestimmtes Ergebnis erreicht zu haben, und wenn es dann tatsächlich eingetreten ist, was sie sich so dringend gewünscht haben, stellen sie fest: Naja, auch nicht anders als vorher. Ganz abgesehen davon, dass es sowieso ein Ding der Unmöglichkeit ist, den eigenen Lebensverlauf vorhersehen zu können. Niemand kann wissen, was zu was führt. Vielleicht sitzt du, nachdem du entlassen wurdest, deprimiert in der Kneipe und glaubst, dass die Entlassung definitiv ein großes Unglück für dich ist. Und dann sitzt da zufällig jemand neben dir an der Bar, der sich deine Geschichte anhört und dir dann einen neuen Job anbietet, der sich als viel angenehmer als der bisherige entpuppt… Es bewahrheitet sich hier, was schon die Weisen sagten: Glück ist kein Zustand, den es zu erreichen gilt. Glück ist eine Art des Sehens.

Genau das ist vielen Menschen aber nicht wirklich bewusst. Stattdessen glauben wir, wir müssten irgendetwas erreichen, um glücklich sein zu können. Und damit wäre die Basis gelegt für eine gnadenlose Sklaverei: Wenn ich mich mithilfe von neuen Gewohnheiten so formen könnte, dass ich perfekt angepasst bin an diejenigen Ziele, von denen ich mir Glück verspreche, dann stelle ich mein ganzes Sein in den Dienst des Erreichens dieser Ziele. Mein Leben wird zum Werkzeug der Zielerreichung. Damit bin ich der perfekte Arbeitssklave. Ich brauche keinen Sklaventreiber mehr, denn den habe ich schon vollständig integriert. Keine äußere Kraft könnte mich mit Zwang dazu bringen, so perfekt auf ein Ziel hinzuarbeiten, wie die Idee, dass ich nur dann glücklich sein werde, wenn ich dieses Ziel erreicht haben werde. Mein Leben aber würde an mir vorbei ziehen, während ich nach diesen Zielen strebe. Und darum würde ich jede Chance verpassen, jemals glücklich sein zu können. Das ist der Grund, warum wir dankbar dafür sein können, dass wir nicht jede beliebige Gewohnheit, die zu unserer Zufriedenheit nichts beiträgt, einfach so in unser Leben integrieren können. Das bewahrt uns davor, unser eigener Sklaventreiber zu werden und hilft uns, die eigene Zufriedenheit jetzt, hier und heute, wichtig zu nehmen.

Viel Spaß bei der Auswahl deiner neuen Gewohnheit!

Autor: Martin

Psychologe, Wissenschaftler, freiberuflicher Trainer & Coach

Ein Gedanke zu „Wie finde ich die zu mir passende Gewohnheit?“

  1. Ich lese deine Beitrage gerne, aber wenn es um das Thema Veronderung geht, denke ich mir meist, dass ich mich damit gar nicht richtig identifizieren kann, da ich mich nicht unbedingt andern will. Ich muss immer an die ublichen Veranderungen denken: gesunder essen, mehr Sport treiben usw. aber im Grunde ist mir tatsachlich erst heute (genau genommen eben in diesem Moment kurz bevor ich angefangen habe zu schreiben) aufgefallen, dass es doch etwas gibt, dass ich gerne an mir andern wurde. Zum einem da es einiges in meinem Leben erleichtern wurde und um doch irgendwo auch Nick etwas das erleben schoner zu machen Mein untalent Ordnung zu halten. Ich empfinde mich selber als chaotisch und das mag ich an mir, aber das Chaos sollte eventuell nicht in meiner Wohnung herrschen. Ich finde so oft Dinge nicht mehr wieder oder an Orten an denen es gar nicht gehort. Vielleicht uberlege ich mir dafur mal ein kleines Programm wie ich das besser in den Griff bekomme. Dinge gleich wegraumen, sauber machen anstatt erst wenn es kritisch wird oder Dinge nicht irgendwo abzulegen, sondern dorthin wo sie gehoren x D Ich denke damit hatte ich endlich mal etwas gefunden um meine Motivation zum verandern reinzustecken, die ich immer bekomme wenn ich deine Beitrage zu dem Thema lese und meine liebe .. ich glaube ich sagte das schon mal gerade wenn du auch negatives erzahlst. Sagst das auch bei dir nicht alles gelingt. Gerade sowas ist unfassbar authentisch und macht dich noch sympatischer. Genau so wie ich das auch sehr motivierend finde 3 Previous Post: Kick-Off fur deine personliche Weiterentwicklung: Gewohnheiten andern und neue Routinen festigen

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