Glück ist eine Art des Sehens

Wir streben alle nach Glück. In den USA hat das Recht auf das Streben nach Glück sogar Verfassungsrang. Wir glauben auch zu wissen, wo wir es finden werden: Wenn ich erst diese Klausur geschrieben habe, wenn ich erst das Studium erfolgreich abgeschlossen habe, wenn ich erst „genug“ Geld verdiene, wenn ich erst dieses ewig dauernde Projekt hinter mich gebracht habe, wenn ich endlich eine tolle Frau/Mann gefunden habe, wenn ich erst Kinder und Familie habe, wenn ich erst in einem eigenen Haus wohne, dann… ja was eigentlich? Dann setzt eine Phase ewig währenden Glücks ein? Natürlich nicht. Wir sind ja nicht blöd, wir wissen ja, dass danach dann was anderes kommt, ein neues Projekt, neue Aufgaben, neue Probleme. Das wissen wir einerseits schon. Andererseits glaubt ein Teil von uns eben doch an die Vision von großartiger Glückseligkeit, die einsetzt, sobald wir endlich, endlich das haben, was wir glauben, wovon unser Glück abhängt. Und selbst wenn wir diesen Teil nicht so deutlich sehen können: Wir verhalten uns aber so! Wir leben für ein später, für ein „Ich muss erst noch…“. Auf diese Weise rennen wir durch unser Leben dem vermeintlichen Glück hinterher wie der Esel hinter der Karotte. „Gleich hinter der nächsten Ecke wartet es schon auf mich, das Glück, ich muss erst noch diese Aufgabe abschließen, erst noch diesen Zustand erreichen…“

Nein, so kommen wir niemals an. Weil es keinen Ort gibt, an dem man ankommen könnte. Glück ist kein Ort und kein Zustand. Glück ist eine Art des Sehens. Wenn ich Sehen kann, was für wunderbare Menschen gerade jetzt, in dieser Lebensphase, um mich herum sind? Kann ich sehen, welche Geschenke mir diese Menschen machen? Kann ich sehen, wie viel spannender Erkenntnisgewinn in der Aufgabe steckt, die ich jetzt gerade bearbeite? Kann ich sehen, in welchem relativen Komfort ich lebe? Kann ich spüren, wie angenehm die Sonne auf meiner Haut sich anfühlt? Wie lebendig sich der prasselnde Regen in meinem Gesicht anfühlt? Kann ich schmecken, welche Aromen die Mahlzeit enthält, die ich eben esse? Kann ich den Wert meiner Langeweile erkennen? Kann ich sehen, warum es gut ist, dass mich dieser eine Typ gerade so nervt? Kann ich sehen, inwiefern es toll ist, dass mein Plan gerade eben über den Haufen geworfen wurde, meine Erwartung enttäuscht wurde? Kann ich sehen, warum die Trauer über einen Verlust auch wunderbar ist? Wer das alles sehen kann, der muss nicht mehr nach Glück streben. Der hat das Glück gefunden.

Autor: Martin

Psychologe, Wissenschaftler, freiberuflicher Trainer & Coach

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