„Prozessfokus ist ja schön und gut. Aber wie kann ich ohne Ziele leben?“

Eine Frage wie diese wird in meinen Kursen immer wieder gestellt. Und sie ist sehr verständlich! Meine Kursteilnehmer*innen lernen zum ersten Mal den Unterschied zwischen Ergebnis- und Prozessfokus kennen. Und verstehen, dass ersteres ihnen nicht gut tut. Als nächster Schritt müssen sie sich dann aber mit eben dieser Frage auseinander setzen: Wenn sie keine Ergebnisse mehr anstreben sollen, wie sollen sie dann überhaupt etwas anderes tun als immer nur das zu tun, worauf sie jetzt gerade am meisten Lust haben, wie z.B. Essen, Schlafen etc.? Wie soll ich dann überhaupt noch vom Sofa hoch kommen? So nachvollziehbar dieser Gedankengang ist, so geht er doch am eigentlichen Konzept des Prozessfokus vorbei. Denn dieser Überlegung liegt ein Missverständnis zugrunde.

Es geht nicht darum, keine Ziele zu haben. Es geht darum, die Aufmerksamkeit während zielorientierter Tätigkeit nicht auf das gewünschte Ergebnis zu fokussieren. Ob prozessorientiert oder ergebnisorientiert ist eine Frage der Aufmerksamkeit – keine der Motivation. Letztere bezieht sich auf die Frage, warum wir eine bestimmte Handlung unter all den alternativen Möglichkeiten, die wir in jeder Sekunde hätten, auswählen. Es gibt viele Gründe, warum wir ein Ziel ansteuern. Diese Gründe mögen uns mehr, weniger oder gar nicht bewusst sein. Es mag sein, dass die Erreichung des Ziels uns tatsächlich gut tut. Es kann aber auch sein, dass durch die Zielerreichung unsere wahren Bedürfnisse gar nicht befriedigt werden. All das steht auf einem anderen Blatt. Die Frage nach Prozess- oder Ergebnisfokus stellt sich erst, sobald ich mich zu einer Handlung bzw. für ein Ziel entschieden habe. Aus welchen Gründen auch immer. Sobald ich diese Handlung dann starten möchte, sobald ich Schritte in Richtung des Ziels gehen möchte, genau dann wird es darauf ankommen, worauf ich währenddessen meine Aufmerksamkeit lenke. Wenn ich vor allem das Ergebnis sehe, dann habe ich keine Augen für das Erleben des Weges. Der Weg ist dann nur die Hürde, die mich von meinem Ziel trennt. Die entsprechend möglichst schnell aus dem Weg geräumt werden soll. Was ich dabei übersehe, ist, dass dieser Weg mein Leben ist. Und dieses Leben werde ich nur dann aktiv miterleben, wenn ich meine Aufmerksamkeit nicht auf einen Punkt in der Zukunft richte, sondern in der Gegenwart bleibe und das mit all seinen Facetten wahrnehme, was gerade direkt vor mir liegt.

Wir haben also auch prozessorientiert durchaus weiterhin Ziele. Sie sagen uns weiterhin, welche Richtung wir einschlagen. Aber sie erinnern uns nicht mehr ständig daran, was unbedingt erreicht werden soll. Sondern sind mehr wie ein Kompass, der die grobe Richtung anzeigt, aber nicht wie eine Landkarte, auf der der Zielort eingezeichnet und der Weg dorthin vorgegeben ist. Wir blicken auf den Kompass, um zu sehen, in welche Richtung wir den nächsten Schritt setzen sollen. Wir sehen uns aber nicht ständig Fotos vom Zielort an, während wir durch die Welt streifen.

Autor: Martin

Psychologe, Wissenschaftler, freiberuflicher Trainer & Coach

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